Vertreibung 1945

Von Schlesien ins Emsland

Vertreibung 1945

März 1945
Wir mußten fliehen, Riemertsheide, unser Heimatort wurde beschossen,
wir waren im Kriegsgebiet.

Im Hof stand der Wagen,
bepackt mit den nötigsten Sachen, zur Flucht bereit.
Die Nacht sank hernieder, die Angst machte sich breit.
Bomben fielen, die Nacht wurde hell
Geschosse schlugen ein, nützte noch unser Weinen ?
Die Not und Verzweiflung schlug über uns herein.
Ich lehnte an der Hauswand, sah den Hof entlang.
Meine Hände krallten sich in den Stein, ich wollte gerne schrein,
doch der Schmerz war zu groß, so ließ ich es sein.
Die Mädchen gingen zu den Kühen in den Stall.
Sie banden die Kälber los,
damit am nächsten Morgen die Muttertiere die Milch wurden los.
Die Pferde holten wir aus dem Stall und spannten sie vor dem Wagen an.
Das Fohlen schlug fast die Stalltüren ein, es wollte doch bei der Mutter sein,
doch zurück bleiben mußte es ganz allein.
Meine Kinder packte ich in Kissen und legte sie in den Wagen hinein.
Sie schliefen ein bei Bombenschlag und Feuerschein.
Gott schütze das liebste was ich hab, wie habe ich Angst, das Gott es erbarm.
Auf der Dorfstraße reihte sich Wagen an Wagen.
Wie ist das schreckliche nur zu ertragen.
Kinder und alte Leute hoben wir in die Wagen.
Der Schmerz fiel wie ein Tier über mich her.
Ich wollte aufschrein, aber auch das konnte ich nicht mehr.
Die Not und die Angst waren so groß.
Die Flucht wurde unser Los.
Gespenstisch zogen wir in die Nacht hinein.
Geschosse schlugen neben Pferde und Wagen ein.
Wir fuhren Stunde um Stunde durch die Nacht.
Durch brennende Städte, Panzersperren, leere Dörfer, woher nehmen wir die Kraft ?
Wir sind mitten im Krieg, wehrlos und schutzlos mit unserm Treck.
Um uns die Hölle, wir sind stumm und starr vor Schreck.

Ein Morgen zog herauf, ein Dorf nahm uns auf.
Die Pferde spannten wir aus,
Sie mußten erst einmal Ruhe haben.
Durch Bomben und Tod haben uns die treuen Tiere gefahren.
Auf einem Bund Stroh ruhten wir aus.
Bomben schlugen nicht mehr auf uns ein,
zu Tode erschöpft schliefen wir ein.

Von den Polen vertrieben – August 1945.

Aus unseren Häusern wurden wir verjagt,
niemand hat uns danach gefragt.
In die alte Festung in Neisse sperrten sie uns ein,
Tagelang hörten wir nur unsere Kinder schrein.
Es gab nichts zu essen, zu trinken, was für eine Not
keiner hatte ein Stück trockenes Brot.
In einem Viehwagen von der Bahn wurden wir verladen.
Zu viele Menschen mußten in einen Wagen.
Ich hockte auf dem schmutzigen Boden,
meine zwei Kinder im Arm.
Die presste ich an mich,
in den vielen Stunden wurden meine Arme lahm.
Die Kinder schliefen vor Hunger und Erschöpfung ein,
was war das doch für eine grausame Pein.
Wohin fährt der Güterzug mit uns?
Wird die Drohung der Polen wahr ?
Nach Sibirien oder an die Krim kommt ihr, das ist doch klar.
Wir sind ausgeliefert, wehrlos – Hass und Wut fallen über uns her,
die Angst verläßt uns jetzt nicht mehr.
Hunger und Durst quälen uns
die Kinder weinen in meinem Arm, das Gott es erbarm.
Nach Stunden Fahrt sehen wir zur Tür hinaus.
Die Fahrt geht nach Westen
wo bekommen wir wieder ein Zuhaus ?

Erklärung

Mein Mann Alois ist im August 1944 in Rußland gefallen.
Vater ( Lehrer Linke ) ist in Friedrichsberg, Grafschaft Glatz, Lehrer.
Martel ist meine Schwägerin.
Kosmas ist Alois Freund. Er hat im ersten Weltkrieg den Arm verloren. Er hilft uns sehr viel.
Sußa, eine Polin hilft uns in der Landwirtschaft.
Anni Sobek ist unser Hauswirtschaftslehrling.
Nikolaus und Wassil sind gefangene Russen. Sie helfen uns in der Landwirtschaft. Vreni und Franzel sind meine Kinder, vier und fünf Jahre alt

Zusatz vom HV Langen.
Frau Kretschmer mit ihren Kindern und Kosmas, sie sind bestimmt den älteren in Langen bekannt, stammen aus Riemertsheide, Grafschaft Glatz, einem Dorf etwa
8 Kilometer von Neisse in Schlesien. Der Ort hatte im Jahre 1939 = 594 Einwohner.

Unser besonderer Dank gilt Frau Kretsmer für das zur Verfügung stellen dieser Ausführungen. Bestimmt hat sie nach ihrer Ankunft in Langen, also noch unter dem Einfluß des Erlebten dieses alles niedergeschrieben. Für die heutige Zeit und spätere Generationen ein willkommener Artikel um nicht all das Geschehene in Vergessenheit geraten zu lassen.
Sicherlich hatten die Bewohner der hiesigen Gegend so kurz nach Kriegsschluß auch ihre Probleme. Auch damals galt das Emsland noch als Armenhaus der Nation.
Das galt auch für die Bevölkerung der Umgebung. Sie war ganz einfach arm. Hinzu kam, daß viele Männer im Krieg gefallen oder noch nicht aus der Gefangenschaft zurück gekehrt waren. Man mußte mit der eigenen Situation erst einmal wieder zurecht kommen und dann kamen nach den Besatzern die vielen, vielen Flüchtlingen die unsere Dörfer überschwemmten und eine Bleibe suchten. Dabei muß man bedenken, daß mehr wie ein Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge waren.
Trotzdem war das alles mit der Situation der Vertriebenen bei weitem nicht zu vergleichen, aber auch irgendwie verständlich, wenn nicht alles so war, wie man es sich vorstellte. Wir hoffen jedenfalls, daß diese vertriebenen Menschen, denen dann unser Ort zur zweiten Heimat werden sollte, sich einigermaßen wohl in Langen gefühlt haben und unser Dorf ihnen etwas vom Verlassenen und Vermißten zurück geben konnte.

Weihnachten 1944 – letzte Weihnacht in der Heimat.

Es ist ein sehr schweres Weihnachtsfest. Die Nachrichten von der Front sind immer trostloser. Die Russen brechen immer weiter durch. Unsere Truppen können den Feind nicht mehr aufhalten. Die alten Männer werden auch eingezogen. Man nennt sie “ Volkssturm “. Sie müssen bei Oppeln Schanzarbeiten leisten. Sie müssen also Schützengräben schaufeln, um den Feind aufzuhalten. So ein Irrsinn. Mein Vater (Lehrer Linke) ist auch dabei. Die Friedrichsberger Schule ist bereits geschlossen. Die Kinder müssen nach Friedersdorf in die Schule gehen.
Da Oppeln nicht weit von Riemertsheide ist, hat Vater Urlaub bekommen und kann den Weihnachtsabend mit uns verleben. Mutter ist in Friedrichsberg allein. Ich habe für uns alle ein gutes Abendessen gekocht und wir sitzen alle gedrückt und traurig um einen großen Tisch. Da ist mein Vater, Martel, Kosmas, Sußa – die Polin, Anni Sobeck, Wassil und Nikolaus – die gefangenen Russen – die uns in der Landwirtschaft helfen, Vreni und Franzel und ich. Trotz allem ( Angst und Not ) singe ich mit der Laute in der Hand ein paar Weihnachtslieder. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen und wir paar Menschen sind uns sehr nahe gerückt.
Was wird uns die nächste Zeit bringen? Es ist nicht auszudenken. Anfang Januar 1945 kommen die ersten Flüchtlinge aus Oberschlesien zu uns ins Dorf. Die Front kommt immer näher. Ein paar Wochen bleiben die Leute bei uns. Unsere Gaststuben sind voll Frauen und Kinder. Die Frauen mußten mit ihren Kindern vor der Front flüchten. Es herrscht eine große Kälte mit Eis und Schnee. Sie sind alle zu Fuß und mit Kinderwagen gekommen. Manche haben Erfrierungen an den Füßen.
Was für eine Not und Elend. Jeden Tag stelle ich große Kannen mit Milch für Alle hin. Irgend wie schaffen wir es immer wieder, daß alle zu essen bekommen. Ein kleines Mädchen, von etwa 10 Jahren hat sich auf der Flucht die Füße erfroren. Ich habe sie in mein Schlafzimmer gebettet und pflege sie. Es ist ein sehr liebes Mädchen und sie hat mich gern. Ihre großen Augen sehen mich immer traurig an. Das Kind hat soviel schlimmes mitgemacht, daß ich sie ganz besonders in mein Herz schließe. Die Mutter hat noch weitere vier Kinder. Darunter ist auch ein Säugling.
In unserem Leid sind auch wir Frauen uns besonders nah. Die Männer sind an der Front oder bereits im Krieg gefallen, wie auch mein Mann Alois. Gott mag sich unser erbarmen. Nun müssen diese Menschen wieder weiterziehen. Die Front bricht immer wieder näher durch. Auch wir müssen uns jetzt zur Flucht rüsten.
Wie ich später erfahren habe, sind die Frauen und Kinder aus Oberschlesien, die bei uns waren, bis Dresden gekommen. Dort mußten unzählige Menschen unter freiem Himmel in einem Park übernachten, denn die Stadt war überfüllt. Auch dieser Park wurde bombardiert. Dabei sind viele verbrannt und umgekommen.
Im Februar kommen SS Soldaten in unser Dorf. Panzer fahren auf und die Front soll von hier zurück geschlagen werden. Ich spreche mit den Offizieren. Sie hoffen, daß sie den Feind aufhalten können. Ich glaube es nicht. Wir müssen damit rechnen, plötzlich flüchten zu müssen. Dazu machen wir einen Wagen fertig. Der Tischler Cyrus macht uns ein Dach darauf. Wir müssen uns darauf einstellen, daß der Feind nicht aufzuhalten ist und die Front uns überrollt. Gott stehe uns bei, Wir erleben Tage voller Angst.

März 1945

Es war heute eine unruhige Nacht. Man hört Geschützdonner. Kosmos kommt sehr früh am Morgen. Er ist sehr Ernst und sagt; Ich habe heute Nacht die Stalinorgel
(ein Dauergeschütz) gehört, der Feind ist nahe. Wir müssen den Wagen bepacken, heute Nacht müssen wir bestimmt flüchten. Den Tag über bepacken wir den Wagen mit Kleidung, Betten und Lebensmittel. Ein kleiner Wagen mit Futter (Hafer) für die Pferde wird angehängt. Frau Preußner, die uns oft hilft, bringt auch das Nötigste und packt es mit auf den Wagen. Auch ihre Schwester ist dabei. Ortsgruppenleiter Kinne läuft durchs Dorf und meldet allen; “Am Abend wenn es dunkel wird, muß der Treck losfahren.” Wie wir den Tag überstehen, weiß ich nicht. Am Nachmittag knien Martel, Frau Peußner und ich in meinem Schlafzimmer vor dem Herrgottswinkel und beten um Kraft und geben uns unter Gottes Schutz.
Denselben Nachmittag werden die gefangenen Russen, die bei uns im Dorf in einem Lager sind, und uns in der Landwirtschaft geholfen hatten, von den Posten abgeholt und weggebracht. Nikolaus und Wassil, die bei uns sind, müssen sich trennen. Wassil darf bei uns bleiben und unseren Wagen fahren. Nikolaus muß mit den anderen Russen weg.
Nikolaus , der mit 23 Jahren noch sehr jung ist, steht bei mir in der Küche. Ich gebe ihm noch Proviant und Wäsche mit. Ich habe sehr große Angst um ihn. Auch Nikolaus hat Angst. Er war ein netter guter Junge. Wir sehen uns an in der großen Not. Aber es gibt keine Worte für die Sinnlosigkeit des Krieges. Wir geben uns die Hand, wiedersehen werden wir uns sicher nie mehr. Er sagt nur: “ Frau, ach Frau”. Wir empfinden und denken das gleiche. Dann muß er gehen.Die Nacht zieht herauf. Wir hören die Granaten immer näher einschlagen. Der Himmel färbt sich rot vom Feuer. Ortsgruppenleiter und Bürgermeister melden: “ Treck fertig machen. Aus den Höfen auf die Straße fahren und einreihen”. Vreni und Franz ziehe ich warm an und packe sie in die Betten auf dem Wagen.
Ich stehe am Haus, meine Finger krallen sich in den Stein, der Schmerz ist so unendlich groß, daß ich nicht mal schreien kann. Ich ordne an, das Sußa und Anni in den Stall gehen und die fünf Kälber losbinden, damit sie von den Muttertieren die Milch trinken können. Kosmas und Wassil spannen die Pferde an den Wagen an. Das Fohlen von der Mutterstute Liese muß zurückbleiben. Es schlägt fast die Stalltüren ein. Ach das schöne liebe Fohlen. Aber es eilt, wir müssen fort.
Dann reiht sich auf der Dorfstraße Wagen an Wagen. Kinder und alte Leute heben wir auf die Wagen. Wir jungen Leute gehen nebenher. Es ist die Hölle, Geschosse schlagen neben dem Wagen ein. Wenn nur kein Pferd getroffen wird oder der Wagen in einen Trichter fällt. Ich sehe, wie Wassil sich ein paar Male tief duckt. So nahe schlagen die Geschosse neben die Wagen ein. Ein Krachen und ein Bersten, der Himmel ist hell von Flugzeugen und Bomben. Kosmas sagt, es werden Christbäume in diesem Abschnitt gesetzt als Markierung für das Abladen der Bombenlast. Der Himmel ist total erhellt von diesen Bomben und von brennenden Häusern und wir fahren mit unserem Treck mitten durch dieses gespenstische Chaos.
Da wir fast nur Frauen und Kinder sind, bin ich froh, daß Wassil dabei ist und die Pferde lenkt. Es ist schwer mit den jungen Pferden bei Nacht den Wagen zu fahren. Kosmas, der im ersten Weltkrieg einen Arm verloren hat, sorgt sich um uns.
Wir fahren durch die Stadt Neisse. Sie brennt lichterloh. Es ist furchtbar, wir müssen durch Panzersperren hindurch. Dann geht es wieder über endlose Straßen und die Bomben schlagen immer wieder neben uns ein.

Der Himmel ist rot von Feuer und Brand. Woher nehmen wir die Kraft? Der Treck stockt, er steht. Die Pferde haben eine Pause, ebenso die Menschen, die neben dem Wagen gehen. Es geht wieder weiter. Ich zähle alle meine Leute. Vreni und Franz schlafen in den Kissen auf dem Wagen. Kosmas, Martel, Wassil, Frau Preußner und ihre Schwester gehen neben mir. Sußa, die Polin ist auch da. Aber Anni Sobeck fehlt. Der Treck zieht an, es geht weiter, aber Anni ist nicht da. Ich habe große Angst um sie. Ich laufe an der Wagenreihe entlang und frage alle ob jemand Anni gesehen hat. Niemand hat sie gesehen. Meine Angst ist riesengroß. Ich laufe und laufe am Straßenrand den Treck entlang. Die Anni ist erst 15 Jahre alt, wo ist sie? Ich such sie in der Nacht. Ein Wunder, ich finde sie. Als der Treck hielt, hat sie sich an den Straßengraben gesetzt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Ich hab sie zu unserem Wagen zurückgebracht und sie mußte sich auf unserem Wagen zu Vreni und Franz legen. Weiter ging es durch die brennende Hölle der Nacht. Gegen Morgen kamen wir nach Kalkan. Die Pferde wurden erst einmal ausgespannt und Kosmas und Wassil versorgten sie erst mal mit Futter. Die treuen Tiere haben uns durch die Bombennacht und die Hölle gefahren. Ich lehnte mich ganz eng an sie und spürte ihre Wärme, ihr schönes Fell und strich mit der Hand über ihre schönen Köpfe mit den großen Augen. Dann legten wir uns in einem fremden Hof in der Scheune auf ein Bund Stroh und schliefen vor Erschöpfung ein. Wir hatten einen Tag Pause in dem Ort Kalkon. Die Front blieb zurück, wir waren aus dem Bombenhagel raus. Dann ging es weiter, wir fuhren in die Schlesischen Berge hinein. Es war gefährlich zu fahren, da unsere schweren Wagen keine Bremsen hatten. Darauf waren wir nicht eingerichtet. Mit einem Knüppel bremsten Kosmos und Martel die Räder, wenn es Bergab ging. Trotz allem fiel die Nette, unser junges Pferd, als es steil abwärts ging, hin. Vreni war so erschrocken, daß sie nicht mehr auf dem Wagen blieb.
Sie weinte und schrie. Sußa nahm sie auf den Arm und trug sie. Was für eine Not und Angst. Wir mußten die Pferde ausspannen und zur Ruhe kommen lassen. Die Nette zitterte am ganzen Körper. Sie war ein wertvolles Tier. Alois hatte sie erst im letzten Urlaub gekauft. Sie sollte für die Kinder ein Reitpferd werden. Dann ging es wieder weiter über Wartha nach Habelschwerdt. In Habelschwerdt wurde unser Treck, es waren ja die Bewohner unseres ganzen Dorfes, außerhalb der Stadt in eine Ziegelei dirigiert. Dort lagen wir auf dem kalten Zementfußboden, hatten kein warmes Essen, die Kinder keine Milch, ja überhaupt nichts zu trinken. Sie weinten und hatten nur Angst. Ich konnte sie nur im Arm halten und etwas wärmen und so schliefen sie dann ein. Kosmas und Wassil blieben bei den Pferden, die in einer großen Halle untergebracht waren. Es waren ja die Pferde aus dem ganzen Dorf darin. Sie waren sich fremd und schlugen sich. Deshalb mußten wir sie bewachen. Wieder zog ein neuer Tag herauf. Trostlos, Aussichtslos, wir waren auf der Flucht. Kosmas ging in die Stadt Habelschwerdt, zu einem Friseur. Martel und ich, sowie die beiden Mädchen blieben bei den Kindern. Warmes Essen oder Trinken gab es nicht. Für die Kinder war das besonders schlimm. Wassil kümmerte sich um die Pferde. Mittags mußten die Pferde eingespannt werden, denn der Treck sollte weiterziehen. Wassil spannte auch unsere Pferde vor den Wagen. Der Treck sollte sich wieder einreihen. Ich stand mit meinen Leuten um den Wagen, aber Kosmas war noch nicht zurück. Frau Preußner und ihre Schwester nahmen ihr Paket von unserem Wagen denn sie wollten mit einem anderen Wagen weiterfahren. Ich ließ alle Wagen vorbei fahren und sagte Wassil, daß er warten solle. In mir war ein Gefühl das mir sagte, fahre nicht mit. Der Treck sollte durch Tchechien nach Iglau fahren. Ich wollte allein weiter fahren.

Ortsgruppenleiter Kinne kam zu mir und befahl mir, mich einzureihen und mitzufahren. Ich war mir sicher, nach Iglau fahre ich nicht. Ich wollte allein weiter und zwar auf Reinerz zu und dann weiter nach Friedrichsberg zu meinen Eltern. Ja Gott war mit mir. Kinne unser Ortsgruppenleiter konnte mich nicht verstehen, aber das war mir gleich. Er wollte, daß ich mich vom Treck nicht trenne.
Ich sagte Wassil, wie er fahren mußte um von Halberschwerdt nach Reinerz zu kommen. Als wir losfuhren und durch die Stadt Halberschwerdt kamen, kam Kosmas auch wieder zu uns. Er war beim Friseur vor Erschöpfung eingeschlafen, da er ja die ganze Nacht bei den Pferden gewacht hatte. Nun hatte ich meine Leute wieder beisammen. Der Riemertsheider Treck war weiter gefahren und Kosmas war erstaunt, daß ich mich von denen getrennt hatte und allein weiterfahren wollte. Doch er akzeptierte meine Entscheidung. Mit einemmal war Kraft in mir und ich wußte was ich wollte.
Ich fuhr mit meinen Leuten, das war Martel, Kosmas, Sußa, Anni, Wassil und meine Kinder weiter in die Berge hinein. Und wieder war Gott mit uns. Es ging uns besser. Wir bekamen die erste Nacht eine gute Unterkunft. Eine Frau, die eine Gastwirtschaft hatte, nahm uns auf. Sie gab uns zu essen und wir bekamen alle ein Bett. Was für eine Wohltat, es war bald nicht mehr wahr. Warmes Essen, gute Schlafgelegenheit und wir konnten uns waschen. O Wunder, diese gute Frau. Die Pferde konnten in Ställe untergebracht werden, bekamen Futter und konnten ruhen.
In der Nacht wurden Vreni und Franz krank. Sie hatten die Ruhr, schrecklichen Durchfall und Erbrechen. Ich war in großer Not, die Kinder so hilflos und krank. Die gute Frau tröstete mich und half mir wo sie nur konnte. Sie verstand mich, denn ihr Mann war auch im Krieg und sie hatte lange nichts von ihm gehört. Mein lieber Alois war in Russland gefallen. Was für eine Not war über uns Frauen gekommen. Von diesem Gasthaus aus rief ich meinen Vater in Friedrichsberg an. Meine Eltern waren erleichtert, als sie wußten wo ich war. Vater sagte mir sofort Hilfe zu. In fünf Stunden konnte ich mit meinen Leuten und dem Wagen in Bad Reinerz sein.
Als wir eintrafen, stand Vater mit einem Gespann Pferde auf dem Markt. Meine Pferde waren durch die Strapazen und dem schweren Wagen total erschöpft. Vater hatte sich von einem Bauern die Pferde geliehen, spannte sie bei uns mit vor und so ging es mit den vier Pferden weiter in die Berge hinein.
In Friedrichsberg angekommen, konnten wir vorerst in der Schule bleiben. Hedel und Michel waren schon da. Sie waren von Grottkau mit einer bekannten Bauersfrau gekommen. Diese hatte ebenfalls zwei Kinder und war wie wir auch mit zwei Pferden und einem Wagen aus dem Kriegsgebiet geflohen. Aber die Schule war bis unters Dach voll mit Menschen. In den nächsten Tagen verteilten wir uns. Sußa und Anni konnten bei unserem Nachbarn Kleiner bleiben. Wassil schlief in der Schulklasse. Dort hatten wir ihm ein Bett zurecht gemacht. Kosmas schlief im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem Sofa. Hedel mit Michel, Martel und ich mit den Kindern in den oberen Zimmern. Auch die Bauersfrau aus Grottkau mit ihren beiden Kindern hatte oben eine Schlafkammer.
Nun kamen Tage voller Angst und Spannung. Wie nah oder wie weit war der Feind ? Was würde noch über uns hereinbrechen. Kosmas und Wassil arbeiteten mit unseren Pferden für die Gebirgsbauern, bestellten die Felder, denn es war ja Frühjahr und dafür bekamen sie Futter für die Pferde. Ich nähte, für alle die etwas brauchten. Martel kochte und half meiner Mutter. So gingen mit den täglichen Arbeiten die Tage hin. Die Kriegsnachrichten wurden immer schlechter. Was kommt nur auf uns zu ?

Mai 1945

Der Krieg war aus, ich meinte, wir müssen wieder zurück in unser Dorf, nach Riemertsheide.
Es kamen schlimme Tage. Die Russen kamen in die Häuser, ich begriff nicht wie viele es waren. Sie nahmen uns die guten Sachen weg, die Uhren, den Schmuck, alles was Wert hatte. Ja, wir wollten und mußten nach Hause zurück auf unsere Höfe. Die Frauen wurden vergewaltigt,. Man hörte überall Schreie in der Nacht. Martel, Hedel und ich liefen in den Nächten in die Felsen der Berge, um uns dort zu verstecken. Anni Sobeck und Sußa kamen auch mit. Es war eine furchtbare Zeit.An einem Tag machten wir den Wagen mit unserer Habe fertig, spannten die Pferde vor und fuhren in unser Dorf zurück. Die Kinder ließ ich bei meinen Eltern. Wassil fuhr den Wagen, wir anderen gingen nebenher. Martel, Kosmas, Sußa, Anni Sobeck und ich. Wie würde es uns ergehen ? Wir hatten keine Ahnung, wie schlimm es für uns werden würde. Als wir mit unserem Wagen in die Glatzer Gegend kamen, standen an einer Wegkreuzung russische Offiziere. Als sie unseren Wagen mit den guten, wertvollen Tieren sahen, geboten sie “Halt”. Unsere geliebten, treuen Pferde, ihr Fell glänzte in der Sonne, sie sahen prächtig aus. Ein russischer Offizier legte die Hand auf die Halfter und befahl ausspannen. Er sagte, das sind meine Pferde. Ich ging zu ihm und fragte:” Wie komme ich weiter ohne Pferde ?” Er lachte höhnisch und gab die Anweisung, mir ein paar Ponypferde anzuspannen. Es wurden zwei Pferdchen gebracht, die in einem erbarmungswürdigen Zustand waren. Ungepflegt, mager und voller Räude. Mein Schmerz um unsere schönen, geliebten Pferde war so groß, daß ich mich nicht mehr nach ihnen umsehen konnte. Wie würde es den wertvollen Tieren ergehen. Ich habe sie so lieb gehabt. Man konnte sie streicheln, sich an sie lehnen, sie gehörten zu uns. Ich wurde ganz starr und kalt vor Schmerz.
Erstaunlicherweise zogen die mageren Ponys den schweren Wagen unserem Heimatdorf Riemertsheide zu. Wir mußten Feldwege fahren und hatten dabei viele Hindernisse, so auch ein Minenfeld zu durchqueren. Kosmas sagte: “ Daß wir dort lebend hindurch gekommen sind, ist ein Wunder.” Kosmas sah die Minen, erkannte sie als alter Soldat, ging voran, führte die Pferde am Halfter. So kamen wir durch das gefährliche Stück Land. Ja, wir kamen in unser Dorf zurück. Ein Grauen überfiel uns. Unser Haus stand noch, aber es war alles ausgeplündert, die Möbel waren noch da. Die Gaststuben lagen voller Dreck und Kot. Zwei Tote lagen im Haus. Ein Soldat lag im Flur und ein alter Mann aus dem Schwesternheim hatte sich in unser Wohnzimmer geflüchtet. Hier ist er dann erschossen worden. Auf den Straßen, den Dorfplätzen, in den Höfen lag überall verendetes Vieh. Vor allem Kühe und Kälber. In den drei Monaten, wo wir fort waren, schon verwest. Ein unheimlicher Gestank lag über dem Dorf.
Inzwischen kehrten auch die anderen Dorfbewohner zurück. Auf den Feldern und im Getreide lagen viele tote Soldaten. Sie wurden auf den Friedhof gebracht und dort beerdigt. Das viele tote Vieh wurde vergraben. Ein Grauen, ein Leid, es ist unbeschreiblich, was über uns hereingebrochen war.
Wir hatten uns aus Friedrichsberg 1 Ziege und 4 Hühner mitgebracht. Das war unser Glück. Futter gab es ja. Die Ziege gab reichlich Milch, Gries und Mehl hatten wir auch, denn in Friedrichsberg war ein Vorratslager aufgeteilt worden. Davon hatten wir uns auch ein paar Säckchen mitgebracht. Weil wir von der Ziege die Milch hatten, kochten wir uns jeden Morgen eine gute Milchsuppe. Und weil wir im Keller noch Kartoffeln hatten, kamen wir so gut über den Hunger. Unsere 4 Hühner legten auch gut. So konnte ich immer eine Mahlzeit auf den Tisch bringen.

Vater Preußner und der Tischler Cyrus waren allein. Die Frauen waren noch nicht zurück. Sie hatten nichts zu essen.
Ich habe sie aufgefordert, jeden Tag zu einer Mahlzeit zu uns zu kommen. Es war wie ein Wunder, es reichte und wir wurden alle satt. Die Hühner legten sehr gut Eier, denn im Hof lag viel angekeimter Weizen, den die Russen beim leer räumen des Getreidebodens verschüttet hatten. Somit hatten die Hühner bestes Futter. Von den vielen Eiern konnte ich noch einige an alte und kranke Leute im Dorf weiter geben. Ja, Gott war mit uns. Von den Zuckerrüben, die noch im Schuppen lagen machte ich Sirup. So aßen wir Kartoffeln mit Sirup. Brot hatten wir nicht , ach hätten wir doch auch Brot gehabt.
Für uns hieß es aber – Überleben. Wir lebten mit zwei Besatzungsmächten, den Russen und den Polen. Ständig waren wir in Angst. Es gab keine Lebensmittel. Vor allem fehlte uns das Brot. Die Ziege von meinen Eltern gab gut Milch. Sie bekam aber auch Klee und Gras so viel sie wollte. Kühe gab es nicht mehr im Dorf. Sie waren entweder von den Russen weggetrieben worden, oder aber verendet. Da unsere Hühner ja gut legten, konnte man mit anderen tauschen, teilen und es reichte immer wieder weil es ja auch sparsam und knapp zuging. Die Frage war trotzdem immer wieder nach Brot. Das fehlte uns doch sehr. Nur immer Kartoffeln und Mehl- oder Grießsuppe, da wollte der Magen auch nicht immer so recht. An einem Tag ging ich auf unseren Boden, wo das Getreide lagerte. Die Russen hatten ja fast alles ausgeräumt und weggefahren. So auch das Saatkorn, alles war weg. Ich stöberte alles durch. Dabei fand ich unseren Brottrog, wir hatten ja immer selber Brot gebacken. Der Trog war umgefallen. So hatten wir ihn nie hingestellt. Ich richtete den Trog auf und drehte ihn um und – Wunder – oh Wunder, darunter lagen zwei Säcke mit gutem Roggen- und Gerstenmehl. Ich erinnerte mich, noch ehe die Front kam, hatte Kosmas das Mehl noch aus der Mühle geholt. Ich legte den Trog wieder über die Mehlsäcke, damit die Polen, die bei uns im Haus ein und aus gingen, diese nicht finden sollten.
Martel und ich haben dann gleich den Sauerteig angesetzt, der in einem Säcklein im Haus noch vorhanden war. In der nächsten Nacht heizten wir den Backofen an und so haben wir dann zwanzig große Brote gebacken. Wenn wir das tagsüber gemacht hätten, hätten die Polen uns dabei überrascht und alles weggenommen. Was ein Wunder, welch großes Geschenk, als wir dann um Mitternacht die Brote aus dem Backofen nehmen konnten. Natürlich mußten wir die Brote dann verstecken. Am anderen Tag trug ich dann einige Brote unter einem großen Tuch versteckt zu anderen Familien. Ohne ein Wort zu sagen, legte ich die Brote bei den Leuten auf den Tisch und verschwand wieder. Große Freude hat überall das Brot ausgelöst, ein schönes, großes, rundes Brot. Die Not war überall so groß und ich war so glücklich, daß ich teilen und etwas helfen konnte
So gingen die Wochen dahin. Immer in Angst vor den beiden Besatzungsmächten, den Russen und Polen. Von den zwei Ponys, die wir mitgebracht hatten, besaßen wir nur noch eines. Wir hatten sie gut gepflegt und sie hatten sich auch gut erholt, dann aber haben uns die Polen wieder eins weggenommen. Mit diesem einen Pony bestellte Kosmas dann auch etwas Acker. Wir pflanzten Kartoffeln, die noch im Keller waren und hofften, sie noch zu ernten. Im Garten haben wir Gurkensamen gelegt, den wir vom Vorjahr geerntet und zurück gelegt hatten und Möhren eingesät und alles gedieh und wuchs. Wir wollten ja überleben.
Nach unserer Rückkehr von Friedrichsberg mußte Wassil sich beim russischen Kommandanten melden. Er kam dann auch nicht mehr wieder. Wir Frauen wurden von den Polen geholt und mußten dann Getreide und Heu, welches in den Scheunen lagerte, auf Wagen laden. Dann wurde dieses nach Polen gebracht.

An einem heißen Tag mußte ich mit Pfarrer Wessely Getreide von einem Boden aufladen. Ich war nicht stark und Pfarrer Wessely diese körperliche Arbeit nicht gewohnt. Daß die Polen mit unserer Arbeit nicht zufrieden waren, läßt sich denken.
Sie bedachten uns mit hämischen und bösen Worten. Besonders der Pfarrer wurde beschimpft. Ja, ja, die katholischen Polen.
An einem Tag, Kosmas war gerade auf dem Feld, Martel auch, sie wurde besonders oft von den Polen zur Arbeit geholt, war ich allein im Haus. Da kam ein Russe herein und befahl mir, ihm die oberen Räume zu zeigen. Ich wollte nicht mitgehen und zeigte nach oben, er sollte sich diese allein ansehen. Doch das wollte er nicht. Er zwang mich mitzugehen. Ja, ich hatte Angst, große Angst. Ich ging mit ihm durch die einzelnen Zimmer aber die interessierten ihn gar nicht. Ich ging wieder zur Treppe und wollte runtergehen. Er war etwa einen Kopf größer als ich und sehr kräftig und stämmig. Die linke Seite seiner Uniform war voll gespickt mit Orden. Er war bestimmt ein höherer Offizier. Ehe ich jedoch die Treppe erreichte, packte er mich, preßte mich an sich und ich wußte, was mir bevorstand. Vergewaltigungen waren ja an der Tagesordnung. Ich rief in meiner Not die Gottesmutter an und betete zu Gott in meiner großen Angst. Und das Wunder wurde wahr. Ich wehrte mich, schlug ihm mit der Faust auf die Brust. Das konnte ihm aber nicht viel anhaben. Aber ich hatte seine Orden getroffen und diese fielen klirrend zu Boden. Er zuckte zurück und wollte die Orden aufheben. Das genügte mir, ich lief die Treppe hinab und zum Nachbarn Hiller. Ich zitterte am ganzen Körper und brauchte lange Zeit, bis ich mich erholt hatte.
Meine Kinder waren noch in Friedrichsberg. Ich hatte keine Ruhe mehr. Alles war so unsicher, was würde noch alles mit uns geschehen ? Ich wollte die Kinder bei mir haben und sie holen. Allein nach Friedrichsberg fahren konnte ich nicht. Ich hatte ja wahnsinnige Angst. Schlesien war ja voll von Polen und Russen. Da sagte Frau Werner, sie war eine beherzte Frau, sie würde mit mir fahren. So machten wir uns auf den Weg. Wir gingen zu Fuß nach Neisse.
Die Stadt war völlig zerstört, wir kamen zum Bahnhof. Züge fuhren nicht mehr fahrplanmäßig, so mußten wir warten. Bei diesem Warten auf dem Bahnhof kamen zwei Russen die mich einfach mitnahmen. Ich sollte in der Kaserne, wo sie einquartiert waren, putzen und sauber machen. Frau Werner war eine ältere Frau. Sie ließ mich nicht allein und kam einfach mit. In der Kaserne machte ich ein paar Betten, nahm einen Eimer und einen Putzlappen und bemühte mich sauber zu machen. In mir immer die Angst vor den Russen und ihren brutalen Vergewaltigungen. Ich schickte immer wieder Stoßgebete zum Himmel. Frau Werner wartete im Flur auf mich. Sie kam zu mir und sagte, es sei ganz still und kein Russe in der Nähe. Ich riskierte es und lief mit Frau Werner auf die Straße und gleich wieder zum Bahnhof. Wir erreichten tatsächlich einen alten ausgedienten Zug, der nach Bad Reinerz fuhr. Die guten, brauchbaren Züge waren alle nach Rußland und Polen gefahren worden. Ich schaffte es also doch mit Frau Werner bis nach Friedrichsberg, packte meine Kinder und einige Sachen und mit weiteren Schwierigkeiten und Strapazen kamen wir wieder nach Riemertsheide. Meine Eltern hatten sich schweren Herzens von uns verabschieden müssen.
Aber die Zeit war voller Leid und Weh, voller Sorgen und Angst und keiner wußte, was der nächste Tag für uns bringen würde. Der Tod war unser täglicher Begleiter.Ich war jedenfalls froh, daß ich die Kinder wieder bei mir hatte. Die Polen bedrängten und erschreckten uns Tag für Tag. An einem Abend brachten die Polen einen alten Mann zu mir ins Haus und sperrten ihn bei uns in den Keller. Der Mann war von Neisse gekommen und wollte durch unser Dorf nach Oppeln, seiner Heimat gehen. Er hatte niemanden etwas getan.

Die Polen gingen hinter dem Mann in den Keller und verprügelten ihn erbarmungslos. Der Mann schrie zum Gott erbarmen. Martel und ich waren starr vor Schreck. Ich sprach mit den Polen, aber sie ließen sich nicht abhalten. Auch ein Deutscher, Namens Adam, machte mit den Polen gemeinsame Sache. Er traktierte uns Deutsche, um bei den Polen gut angesehen zu sein. Kameradenschinder nannte man ihn auch. In dieser Nacht half er den Polen auch, diesen armen, alten Mann zu schlagen. Martel und mir wurde angedroht; wenn ihr es wagt, diesen Mann aus dem Keller zu lassen, oder ihm zu helfen, schlagen wir euch genau so und bringen euch weg. Martel und ich konnten nicht schlafen, wir saßen in unseren Betten und beteten die ganze Nacht. Gott möge sich unserer Not erbarmen. Am nächsten Morgen kam ein Wagen. Die Polen schleppten den Mann aus dem Keller, luden ihn in den Wagen und fuhren weg. Was mögen sie nur mit ihm gemacht haben? Erbarmen gab es mit uns Deutschen nicht.
Am nächsten Tag kam Alois Werner zu uns auf den Hof. Ich wollte ihm erzählen, wie schrecklich die Nacht war und faßte ihn am Arm. Da schrie er fürchterlich auf und sagte; “Rühre mich nicht an Hilde, auch mich haben die Polen heute Nacht ganz schlimm geschlagen. Jedes Glied tut mit weh.” Wie war das doch entsetzlich. Wir waren den Mächten wehrlos gegenüber und ausgeliefert. Schwere, schwere Wochen folgten. Wir hatten wenig zu essen und waren in ständiger Angst. Frau Glatzel wurde krank und bekam Typhus. Ihr jüngstes Kind, die Hedel hatte die Ruhr. Sie war noch keine drei Jahre alt. Als ich auf Glatzels Hof kam, um nach der kranken Frau zu sehen, stand das Kind allein auf dem Hof, die Wäsche vom Durchfall verschmutzt. Es war so schwach und unterernährt, daß es nicht mehr allein laufen konnte. Frau Glatzel lag mit hohem Fieber im Bett. Unsere Krankenschwester nahm sich ihrer an und holte sie ins Schwesternheim. Die kleine Hedel nahm ich mit zu mir. Ich wusch es und pflegte es wieder gesund. Es blieb mit meinen Kindern bei mir im Haus. Ich hatte ja noch Ziegenmilch und konnte so für die Kinder jeden Tag eine Milchsuppe kochen. Frau Hedel Tornow war ebenfalls mit ihren Kindern oft bei uns. Wir halfen uns so gut wir konnten, denn jetzt hatten wir fünf Kinder im Haus.
Die Leute im Dorf wußten, daß ich den Kindern im Dorf half und daß ich Hedel Glatzel gesund gepflegt hatte. An einem Abend, als ich durch das Dorf ging, kam mir Frau Franke nach und bat mich, auch ihr Kind aufzunehmen. Auch dieses war krank und unterernährt. Sie hoffte, daß ich auch ihrem Kind helfen konnte. Ich sagte ihr zu und am nächsten Tag würde ich es holen. Doch es kam nicht mehr dazu.
Ich stand im Hof und wusch Wäsche. Die Kinder spielten im Sand. Plötzlich kamen zwei Männer von der polnischen Miliz mit dem Gewehr im Anschlag und brüllten mich an: “ Raus – raus mit euch, dawai – dawai, nur mitnehmen was ihr tragen könnt.” Vor Schreck konnte ich nicht denken. Erst holte ich Vreni und Franz aus dem Sand, wo sie spielten. Ich selber war barfuß in ein paar alten Schuhen, einer dünnen Bluse und einem alten Rock. Hedel Glatzel setzte ich in den Kinderwagen von meinen Kindern. Dann war ich doch noch so geistesgegenwärtig und nahm einen alten Koffer, den ich schon früher gepackt hatte, mit den wichtigsten Papieren und Ausweisen und legte ihn auf eine alte Mistkarre, die viel zu schwer zum Fahren war. Wäsche für mich und die Kinder hatte ich nicht und in der Verwirrung nahm ich nicht meinen guten Mantel, sondern einen alten Mantel mit. Für Martel legte ich noch einen Mantel über den Kinderwagen, in dem die kleine Hedel Glatzel lag. Martel war von den Russen abkommandiert und mußte auf dem Feld beim Dreschen helfen. Sie durfte nicht zurück in Haus. Auf der Straße standen sämtliche Leute unserem Dorf und von den Nachbardörfern Jentritz und Rothaus. Wir mußten uns mit einreihen. Kosmas hatte einen Bollerwagen, der dem Franzel gehörte, geholt und setzte die Vreni und den Franzel hinein.

Hedel Tornow fuhr den Kinderwagen mit der Hedel Glatzel und Kosmas die Vreni und den Franzel in dem Bollerwagen. Ich hatte die alte Mistkarre mit dem Koffer drauf. In den Kinderwagen hatte ich noch einen Topf mit Griesbrei gesetzt, den ich für die Kinder als Mittagessen vorbereitet hatte.
Tornows Kinder liefen neben uns her. Sie waren erst fünf und sechs Jahre alt. Als wir uns mit den Kindern in die Reihen der zusammengetriebenen Leute einreihten,
sagte Theodor Scholz, der mit seiner Frau und drei erwachsenen Kindern dastand, auf den Rücken gut gepackte Rucksäcke: “ Was fällt dir ein, Hilde, laß doch das Glatzel Kind stehen, du hast doch mit deinen eigenen Kindern genug zu tun.” Frau Glatzel lag immer noch mit Typhus und hohem Fieber im Schwesternhaus. Sie konnte ihr Kind doch nicht nehmen. Stehen lassen wollte ich aber das Kind auf keinen Fall. Was würde denn aus ihm werden? Der Gedanke war mir zu schrecklich. So zogen wir in dem Menschenhaufen los. Es war ein sehr warmer Tag und wir wurden im wahrsten Sinne des Wortes getrieben. Die polnische Miliz ging an unserem Menschentreck mit aufgepflanztem Gewehr entlang und versetzte uns ständig in Angst und Schrecken. Wir wurden wirklich gejagt, ohne Pause, fast 10 Kilometer bis Neisse. Dabei ging uns vom Kinderwagen ein Rad ab. Nun löste ich Hedel ab, nahm den Kinderwagen und fuhr auf drei Rädern weiter. Hedel nahm die Mistkarre mit dem Koffer. Wie wir es geschafft haben, weiß ich nicht mehr. Wir mußten uns aber immer wieder abwechseln. Kosmas sorgte sich um Vreni und Franzel im Bollerwagen. Dann sah ich Martel auf dem Feld, bei der Kolonne, die Getreide dreschen mußte. Mit aufgepflanztem Gewehr standen die Russen dabei und kommandierten die Dresch- und Verladearbeiten. Es gab viel gutes Getreide in dem Jahr. Roggen, Gerste, Hafer und viel guten Weizen. Ich schaffte es, daß ich Martel am Straßenrand den Mantel geben konnte. Es war das einzige, was sie nun noch besaß. Viel miteinander sprechen konnten wir nicht, wir wurden gleich auseinander getrieben. Ich gab ihr noch kurz zu verstehen, daß ich mich, wenn es möglich wäre, zu meinen Eltern nach Friedrichsberg in Niederschlesien durchschlagen wollte. Erst war für uns einmal alles aussichtslos und verzweifelt.
Und weiter trieben uns die Polen Richtung Neisse in die alten Festungsbauten (Kasematten). Zu Tode erschöpft kamen wir dort an.
Was jetzt kam, war unbeschreiblich. In den alten Festungsräumen waren etliche Feldbetten aufgestellt. Die Räume waren viel zu klein für die vielen Menschen, die hier zusammengetrieben wurden. Es waren ja die Bewohner mehrerer Dörfer, die hierher zusammengejagt worden waren. Die Strohsäcke auf den Betten waren schmutzig und versaut. In der Nacht merkten wir dann auch noch, daß alles voller Wanzen war. Es waren zu wenig Betten und Stühle vorhanden, so daß die Menschen dicht an dicht auf dem Fußboden lagen, fast schon übereinander. Ich saß auf einem Bett. Die Kinder hatte ich auf meinen Armen. Zum Liegen war kein Platz vorhanden. Hedel Tornow saß neben mir und hielt ihre Kinder. In welcher Ecke Kosmos saß, konnte ich nicht sehen. Wahrscheinlich saß er irgendwo auf dem Steinfußboden. Ich war am Ende meine Kräfte. Ich hatte nur um meine Kinder Angst und um das Kind von Frau Glatzel, das neben mir lag. Ich bewunderte Hedel Tornow, sie war so stark. Sie sorgte sich auch noch um mich und half mir. In der Nacht quälten uns Wanzen und Flöhe. An Schlaf war nicht zu denken. Die Kleinkinder schrien die ganze Nacht. Es gab für sie nichts zu trinken und das Ungeziefer quälte alle. Einige alte Leute hatten die Ruhr. Sie mußten nach draußen auf sehr primitive Toiletten. Das waren nur Verschläge. In der Dunkelheit, es gab ja kein Licht in den Räumen, stiegen sie über die am Boden hockenden und liegenden Menschen. Sie fielen über diese und auf diese, ehe sie im Hof waren. Oft schafften sie es nicht schnell genug und ihre Wäsche und Kleidung war vom Kot verschmutzt.

Hedel Tornow half mehreren alten Leuten in dieser Nacht, den Weg zu den Toiletten zu finden. Ich hockte auf meinem Platz und konnte mich vor Schwäche kaum rühren und mein Denken setzte aus. Die Nacht nahm kein Ende. Wir waren von Gott und aller Hilfe verlassen. Doch geweint haben die Erwachsenen nicht. Das Leid, die Not, die Angst hatte alle erstarren lassen. Ein neuer Morgen zog herauf. Das Grauen war mit uns.
Die Polen hatten Frau Glatzel, die ja an Typhus erkrankt war, und mit dem Treck nicht mitgekommen war, von Riemertsheide auf einen Wagen zu uns in die Kasematten gebracht. Sie war bekleidet mit einer Nachtjacke, einem Rock von den Ordensschwestern und einem Tuch, keine Wäsche, nichts. Das war ihre ganze Habe. Es gab wieder nichts zu trinken, geschweige zu essen. Die Kinder weinten und schrien weiter. Frau Beier mit ihren sechs Kindern war immer in meiner Nähe. Ihren Mann hatten die Polen nach Neisse ins Gefängnis gebracht. Frau Beier versuchte alles, vom Kommandanten die Erlaubnis zu bekommen, ihren Mann zu besuchen. Es wurde ihr nicht erlaubt. Später hörten wir, daß Herr Beier von den Polen so geschlagen wurde, daß ihm die Muskeln von den Knochen abfaulten. Er starb elendig im Gefängnis.
Doch nun ging es wieder los. Im Laufe des Tages wurden wir auf dem Hof zusammengetrieben. Es ging zum Güterbahnhof. Hier wurden wir in Güterwagen verladen. Frau Glatzel war auch bei uns. Ich lief zu ihr und übergab ihr die kleine Hedel. Sie gehörte doch bei ihre Mutter.
Wußten wir , wo wir hinkamen ? Die Angst verließ uns nicht. Es wurde eine Pause eingelegt. Die Polen ließen uns am Bahndamm verweilen. Hier gab es einen kleinen See. Ich setzte mich an den Rand und wollte meine brennenden Füße waschen. Dabei vergaß ich, daß ich meinen Ehering von Alois in den Strumpf gesteckt hatte um ihn vor den Polen zu retten. Als ich den Strumpf auszog, fiel der Ring in den See. Ich war verzweifelt. Nun war der Ring, das letzte von meinem geliebten Alois, auch verloren. Als Alois gefallen war, hatte ich ihn mit seinem Tagebuch aus Rußland zugeschickt bekommen. Wir wurden wieder in Viehwagen getrieben. Es kamen wieder viel zu viele Menschen in einen Wagen. Es gab keine Sitzgelegenheit. Die Menschen hockten wieder auf dem dreckigen Boden, lagen fast übereinander. Ich saß in der offenen Tür und hatte Franz und Vreni rechts und links im Arm. Hedel Tornow mit ihren Kindern war neben mir. Kosmas saß in der Tür und hatte die Beine draußen hängen. Die Fahrt ging los. Wir hatten Angst, große Angst. Wo bringt man uns hin ? Kosmas war so erschöpft, daß er einschlief. Hedel Tornow saß hinter ihm und hielt ihn an der Jacke, damit er während der Fahrt nicht aus dem Zug fiel. Nach Stunden spürte ich meine Glieder nicht mehr. Sie waren taub und gefühllos. Trotzdem hielt ich Vreni und Franz fest an mich gedrückt, um sie während der Fahrt an der offenen Tür nicht zu verlieren. Die Gefahr war groß, daß auch ich einschlief. Und weiter ging es. Die Polen schreckten uns mit den Worten:” Nach Rußland kommt ihr, auf die Krim.” Wir waren immer in Angst. Aber wir kannten in Schlesien ja die Bahnstationen und konnten so feststellen, daß die Fahrt nicht nach Osten ging, sondern nach Westen. Uns so kamen wir nach Niederschlesien. In Kohlfurt wurde angehalten. Die polnische Miliz wollte von uns Geld haben, eher würde man uns nicht weiter fahren. Der Zug stand auf den Gleisen. Wir haben von unserer geringen Habe gesammelt. Zu essen und zu trinken hatten wir immer noch nichts. An mich dachte ich dabei nicht, nur an die Kinder. Kein Stückchen Brot, nichts zu trinken, so ging das Tage schon. Frau Beier und ich gingen an den Bahngleisen entlang. Wir rangen die Hände und wußten nicht aus, noch ein. Was soll bloß werden. Ich hatte das Gefühl, mit diesem Zug darf ich nicht weiter fahren.

In unserer großen Ratlosigkeit, in dieser Hilflosigkeit, sagte Frau Beier, wir beten zum heiligen Geist, daß er uns raten und helfen möge. Wir standen auf den Bahnschienen, falteten unsere Hände und flehten in unserer tiefen Not um Hilfe.
Ich hatte kurz vorher eine junge Frau gesprochen, die ein kleines Kind im Kinderwagen hatte und auf Görlitz zufuhr. Ich hatte ihr gesagt daß sie nicht mehr zurück kann, da wir ja aus Schlesien kamen. Die Frau war so verzweifelt. Sie hat gesagt, daß sie schon tagelang unterwegs sei und sogar bis
Bautzen gekommen war. Aber niemand hat sie mit ihrem Kind aufnehmen wollen und so wolle sie wieder zurück in ihr Haus. Wahrscheinlich jagen mich die Polen dort wieder hinaus aber ich weiß nicht weiter.
Unsere Viehwaggons standen immer noch auf den Gleisen, mit den vielen zusammengetriebenen Menschen. Er würde wohl bald wieder weiter fahren. Mein Gefühl verstärkte sich, das ich nicht weiter mitfahren konnte. Frau Beier und ich hatten immer noch die Hände gefaltet und flehten weiter um Hilfe und Rat. Da sehe ich, daß ein Gegenzug eingefahren kommt und auf den Gegenüberliegenden Gleisen hält. Er sollte weiter nach Liegnitz fahren. Von Liegnitz könnte ich weiter über Waldenburg ins Glatzer Land kommen. Mich durchfuhr es blitzartig, wenn ich hier mitfahre, könnte ich zu meinen Eltern nach Friedrichsberg. Das war Niederschlesien und die Bewohner waren noch nicht vertrieben. Frau Beier sagte, sie käme dann zu ihrem Bruder nach Habelschwerdt im Glatzer Land. Zeit gewonnen – viel gewonnen – und das Wunder wurde wahr, der Zug hielt. Es war nur vorne ein Personenwagen. Alle anderen waren offene Güterwagen mit Rohren beladen. Ich lief auf einen Bahnbeamten zu, der ausgestiegen war und fragte ihn, ob ich mitfahren dürfte. Der zuckte nur mit den Achseln und sagte, daß ich den russischen Kommandanten fragen müsse, der vorne im Personenwagen sei. Ich lief was ich konnte mit großer Angst im Herzen zum ersten Wagen um mit dem Kommandanten zu sprechen. Der sah zum Fenster heraus und hatte ein Mädchen auf dem Arm. Auf meine fragende Bitte, ob ich mitfahren dürfe, nickte er. Er hatte mich bestimmt nicht verstanden. So schnell ich konnte lief ich zurück, informierte Frau Beier, verständigte noch schnell Hedel Tornow und Kosmas.
Die paar Sachen, die uns gehörten, holten wir aus dem Viehwagen und stiegen dann um auf den anderen Güterzug. Frau Beier mit ihren Kindern, Hedel Tornow mit ihren Kindern Christel und Martin und ich mit Vreni und Franz. Als letzter stieg Kosmas auf. Er sagte nur, wie kannst du das riskieren. Aber in mir war ein ungeheurer Mut und Gott war mit uns. Keine Minute zu früh waren wir auf den Güterwagen aufgestiegen und schon fuhr er wieder los. Unsere Gruppe saß zusammengedrängt auf den alten Eisenrohren. Die Mitvertriebenen aus Riemertsheide, die im anderen Zug in den Viehwagen zurück geblieben waren, schrien uns noch nach. Sie konnten es nicht fassen, daß wir uns abgesondert hatten. Die polnische Miliz hatte Gott sei Dank nicht gemerkt, daß wir auf den Güterzug umgestiegen waren. Sehr wahrscheinlich hätten sie uns erschossen. In Liegnitz hielt der Zug. Da mußten wir aussteigen, denn wir wollten ja über Waldenburg ins Glatzer Land. Auf dem Liegnitzer Bahnhof waren sehr viele Russen. Eine Frau sagte mir: “Hier bleibt bloß nicht über Nacht. Die Frauen werden hier scharenweise vergewaltigt.” Wieder hatten wir große Angst und Not. Ein Zug fuhr nicht mehr weiter. Wir nahmen unsere Kinder und die wenige Habe, die wir hatten und gingen in die Stadt Liegnitz hinein. Wir waren alle auf das Äußerste erschöpft und konnten nicht mehr weiter gehen. Ich ging aufs Geradewohl in eine Toreinfahrt hinein und dort eine Treppe hinauf. Hatte mich mein Schutzengel geführt? Gleich an der ersten Wohnungstür klingelte ich. Eine junge Frau öffnete mir die Tür. Ich fragte sie, ob wir für eine Nacht unterkommen könnten und erklärte ihr dabei unsere Not.

Wir waren zusammen dreizehn Personen. Und die Frau nahm uns ganz selbstverständlich auf. Was ein Glück für uns. Sie hatte nur eine kleine Wohnung und war Schneiderin. Wir durften in ihr Wohnzimmer. Wir saßen auf ihren Stühlen, auf dem Sofa, und auf dem Teppich. In uns kehrte langsam wieder Ruhe ein. Für eine Nacht waren wir wieder gerettet. Die gute Frau brachte uns Brot und Tee. Sie sagte, daß sie uns das Brot geben könne, weil sie für die russischen Offiziersfrauen nähe und dafür Lebensmittel bekomme. Nun bekamen wir wieder das langersehnte Brot, daß wir tagelang nicht mehr zu essen hatten. Danach durften wir uns in der Waschküche waschen. Ich habe nie gewußt, wie herrlich Wasser und Seife ist. Was war das eine Wohltat. Tagelang hatten wir in den Kasematten und in den Viehwagen verbracht und waren verschmutzt und verdreckt. Nun waren wir wieder sauber und erfrischt . So bekamen wir wieder Mut. Gott wird uns weiter helfen. Die Nacht verbrachten wir im Wohnzimmer der Schneiderin. Wir lagen alle nebeneinander auf dem Teppich der Schneiderin und konnten auch wieder schlafen. Am Morgen gab uns diese Frau dann wieder Getreidekaffee und Brot. Was für eine gute Kost. Wir waren der Frau unsäglich dankbar, die so gut zu uns war. Dann gingen wir zum Bahnhof. Dort wurde ein Zug eingesetzt, der über Waldenburg nach Glatz fuhr. In mir dämmerte eine leise Hoffnung, daß wir unser Ziel erreichen würden. Meine Entscheidung war richtig gewesen, uns von unseren Leuten zu trennen und zurück zu fahren. Wir fuhren wieder in einem offenen Güterzug, der Rohre und Bleche geladen hatte, auf Waldenburg zu. Ich hielt Franzel im Arm. Vreni saß neben mir. Die Rohre waren hoch aufgepackt. Wir hatten alle wenig Platz zum sitzen. Als auf freier Strecke plötzlich der Zug hielt, erschreckte Franzel, fiel herunter vom Zug auf die Gleise. Ich war starr vor Schreck. Doch sofort sprang ich hinterher und hob das Kind auf. Kosmas kam sofort hinterher und half mir, den Jungen wieder auf den Güterwagen zu heben. Gerade früh genug, denn der Zug fuhr wieder an. Das Kind weinte bitterlich. Es war mit dem Kopf auf die spitzen Schottersteine gefallen und hatte sich dabei verletzt. Die Steinspitze war in die Kopfhaut gedrungen. Ich hatte keinen Verband und nichts um die Wunde zu reinigen. Dabei blutete die Wunde stark und es sah böse aus. Sein Schwesterchen Vreni war auch verschreckt , drückte sich an mich und weinte ebenfalls.
Frau Beier und Frau Tornow mit ihren Kindern saßen direkt hinter uns auf den Rohren. Es war so wenig Platz, daß wir nicht wußten wo wir unsere Füße hinsetzen sollten. Kosmas war auf den Güterwagen nebenan gekrochen. Franzel hielt ich fest im Arm. Er schlief dann auch ein. Ich war immer noch gelähmt vor Schreck. Der Güterwagen fuhr und fuhr und so kamen wir nach Waldenburg. Die Stadt war voller Flüchtlinge aus Oberschlesien. Wir kamen dort in einer Schule unter, die von Menschen schon überfüllt war. Sie lagen auch hier auf Bänken und dem Fußboden oder saßen auf Stühlen. Franzels Kopfwunde hatte sich entzündet und fing an zu eitern. Ich suchte eine Rot-Kreuz-Helferin auf. Doch außer mit Jod und etwas Verbandzeug konnte sie mir auch nicht helfen. Ich reinigte die Wunde und verband sie. Dann schlief Franzel wieder in meinen Armen ein. Ich saß mit ihm die ganze Nacht auf dem Fußboden. Vreni konnte nicht mehr weinen. Sie wimmerte nur noch leise. Am nächsten Morgen fuhr ein Personenzug ins Glatzer Land. Mit diesem fuhren wir mit. Zu essen und trinken hatten wir den vergangenen Tag nichts bekommen. Frau Beier fuhr mit ihren Kindern nach Habelschwerdt zu ihrem Bruder. Ich mit meinen Kindern, Hedel Tornow, mit ihren Kindern und Kosmas fuhren weiter nach Reinerz. Da stiegen wir aus. Von hier mußten wir acht Kilometer in die Berge zu meinen Eltern nach Friedrichsberg. Doch Gott hatte wieder mein Hilferufen gehört. Ich ging in einen kleinen Bauernhof, der an der Bahn lag. Ich kannte die Leute, die einen kleinen Ackerwagen und ein Ponypferd hatten.

Wir setzten die Kinder und unsere wenigen Habe auf den Wagen und der Bauerssohn fuhr uns zur Schule nach Friedrichsberg. Wir Erwachsenen gingen den Weg zu Fuß. Von weitem sah ich auf der Schule schon die polnische Fahne wehen. Oh, mein Gott, wieder war die Angst da. Als ich an der Tür klingelte, kamen Vater und Mutter heraus. Worte gab es nicht. Wir waren da. Die Not und Angst der vergangenen Tage stand in unseren Gesichtern geschrieben. Hedel Matschke war mit Michel schon da. Hedel hatten die Polen für mehrere Tage in Grottkau ins Gefängnis gesperrt. Sie wurde mit ihrem drei jährigen Kind einfach aus dem Haus geholt und ohne Grund eingesperrt. Irgendwie war es ihr gelungen, mit Michel und dem Kinderwagen zu entkommen. Sie hatte sich über Feldwege viele Kilometer nach Friedrichsberg durchgeschlagen. Gottlob waren in der Schule keine Polen, nur die Flagge war auf dem Gebäude gehißt. So konnten wir hier vorerst einmal unterkommen. Es war aber trotzdem eine schwere Zeit. Kosmas ging tagsüber zu unserem Nachbarn Kleiners, der Bergbauer war. Dort half er und bekam dafür zu essen. Schlafen konnte er in der Schule. Hedel Tornow kam mit ihren Kindern beim Bergbauern Pischel unter. Da sie bei der Arbeit half, bekam sie auch dort die Kost. Hedel mit Michel und ich mit den Kindern blieben in der Schule. Es ging ums nackte Überleben. Mit viel Mühe beschafften wir uns Brot, Milch und Kartoffeln. In diesen Wochen kam auch Martel zu uns. Es war ihr gelungen, von den Russen wegzukommen, wo sie wochenlang auf den Feldern beim Dreschen arbeiten mußte. Das erwirtschaftete Getreide wurde nach Rußland gebracht. In unser Haus nach Riemertsheide konnte sie nicht zurück, das hatten die Polen verboten. Sie hatte nicht einmal die nötigsten Sachen, nur die Kleider am Leib und den Mantel, den ich ihr an der Straße zugeworfen hatte. Was war sie arm. In den Wochen, in denen sie für die Russen gearbeitet hatte, brauchte sie den Mantel um sich damit Nachts zuzudecken. Eine Decke hatte sie dafür nicht.
In den ersten Wochen in Friedrichsberg bekam ich Fieber und wurde krank. Ein Arzt aus Reinerz stellte Typhus fest. Das Fieber stieg, ich nahm nichts mehr zu mir und eine große Gleichgültigkeit kam über mich.
Ich wurde in einem Ackerwagen vom Bauern Kleiners auf Stroh gelegt und wurde nach Reinerz ins Krankenhaus gefahren. Das Fieber war so stark, daß ich um mich herum nichts mehr wahrgenommen habe. Dann, nach mehreren Tagen bekam ich wieder ein paar Lichtblicke. Wie durch einen Schleier sah ich Martel und Kosmas bei mir am Bett sitzen. Zuerst erkannte ich sie nicht, doch allmählich dämmerte mir, wer sie waren. Kosmas kam mich oft besuchen. Es war immerhin ein Fußweg von über zehn Kilometern von Friedrichsberg nach Reinerz. Später sagte er mir, daß sie große Angst um mich und keine Hoffnung auf meine Gesundung gehabt hatten. Doch ich hatte dort eine liebe Krankenschwester und eine junge Ärztin, die mir geholfen haben. In den Lichtblicken, die ich hatte, merkte ich, daß viel für mich getan wurde. Viel Medikamente gab es ja nicht, aber was da war, bekam ich. Wenn das Fieber stieg, hüllten sie mich in nasse Tücher. Manchmal merkte ich, wie konfuse Antworten ich der Ärztin gab. Einmal sagte ich ihr, daß jede Nacht ein Hutzelweib in mein Zimmer kommt und sich hinter mein Bett setzt. Dann nahm die Ärztin meine Hand und sagte:” na , na.” Da wußte ich, daß ich im Fieber phantasierte. Und, oh Wunder, ich schaffte es, ich wurde gesund. Die gute Ärztin hatte für mich die Medikamente organisiert, denn die Polen hatten im Krankenhaus alles beschlagnahmt und fortgeschafft. Als eines Morgens meine Gedanken wieder klar waren, war die Ärztin nicht mehr da. Die Schwester erzählte, die Polen hätten der Ärztin die Haare abgeschnitten und sie bedroht. Sie ist bei Nacht und Nebel geflohen. Hoffentlich ist sie in den Westen gekommen.

Sie war ein lieber und hilfreicher Mensch. Ein Arzt betreute mich noch ein paar Tage. Dann wurde ich entlassen. Ich war wieder in Friedrichsberg. Da ich noch sehr schwach war, mußte ich noch ein paar Wochen liegen. Es war ein Wunder, daß ich niemanden von meinen Angehörigen angesteckt hatte. Wie freute ich mich auf meine Kinder. Aber, oh Schock, beide hatten Keuchhusten. Franzel hatte es am schlimmsten gepackt. Sein Gesicht war ganz verschwollen. Als er mich sah, jauchzte er vor Glück. Wir umarmten uns, drückten uns und wollten uns nicht mehr loslassen. Vreni hatte den Keuchhusten fast überwunden. Wir herzten, küßten und freuten uns. Als ich dann später wieder arbeiten konnte, ging ich jeden Tag nach Karlsberg in die Schule und nähte dort unter anderem auch für eine polnische Lehrerin, die dort wohnte. Die Lebensmittel, die ich dort bekam, konnte ich den Kindern und meinen Eltern mitbringen.
Der Herbst kam und Kosmas wurde auf dem Gut in Friedersdorf zum Bestellen der Felder und zum Säen eingesetzt. Die Polen bewirtschafteten das Gut und holten die Deutschen zur Arbeit. Kosmas zog sich einen langen Mantel mit großen Taschen an. Vom Saatgut steckte er dann Korn in die Tasche und brachte es für uns mit. Wir haben Korn und Gerste mit der Kaffeemühle gemahlen und haben uns Brot gebacken. Es ging Tag für Tag darum, das Nötigste zum Leben zu haben. Das Brot, das Kosmas von Kleiners zur Vesperzeit für die Arbeit bekam, hob er auf und brachte es für Franzel mit. Der hatte immer Hunger. Franzel wartete immer schon an der Verandatür auf Kosmas. Der gab ihm dann die Butterbrote, die er mit Heißhunger verschlang. Mir drehte es das Herz um. Wie arm und wie hilflos waren wir doch. Wann kam denn mal Hilfe aus dieser Not.
Sprenis hatten noch etwas Briketts. Bei uns in der Schule wurde das Brennmaterial schon knapp. Holz war zwar noch da, aber der Winter stand vor der Tür. Sprenis gaben uns von ihren Brikett etwas ab. Kosmas und ich durften uns an einem Abend mit dem Handwagen etwas holen. Wie lange würde das vorhandene reichen. Es gab keine Aussichten auf Besserung unserer Lage. Weihnachten stand vor der Tür. Irgendwie organisierte Kosmas Weizenkörner. Die mahlten wir beim Nachbarn. Etwas davon hoben wir noch auf. Mit dem Gemahlenen haben wir uns einen großen Mohnkuchen gebacken. Das kleine Zimmer oben in der Schule haben wir ordentlich geheizt. Da war es dann schön warm. So saßen wir dann alle um den Christbaum. Dabei waren meine Eltern, Hedel und Michel, Martel, Kosmas, Franzel, Vreni und ich. Ja wir waren sehr nah zusammengerückt und haben Weihnachtslieder gesungen. Wir spürten, das Jesuskind in seiner Armut, in der Krippe, war uns sehr nahe. Wir konnten Weihnachten feiern. Die Nachbarskinder kamen und spielten ein Krippenspiel. Ich werde es nie vergessen, wie strahlend Vreni und Franzel die Engel, Maria und Josef betrachteten. Franzel atmete ganz laut und rief:” Wie schön, wie schön.” Er tat sich mit dem Sprechen noch recht schwer. Aber diese Worte konnte er aussprechen. Mir liefen die Tränen über die Wangen. Es war eine eigene, sonderbare und doch innige, schöne Weihnacht, weil das Christkind uns so nahe war.
Nach Weihnachten mehrten sich die Nachrichten, wir würden auch aus dem Glatzer Land vertrieben. Wochen voller Angst und Ungewißheit verlebten wir. Der tägliche Kampf um Lebensmittel nahm uns voll in Anspruch. Ich nähte Tag für Tag. Bei Mutter waren noch Stoffe im Haus wie Batist, farbig und gemustert und mit Blümchen. Ich kam auf den Gedanken, die Stoffe eigneten sich auch zum Nähen von Büstenhalter. Ich nähte, und sie gelangen mir ganz gut. Martel und Kosmas gingen zwei mal in der Woche nach Reinerz und verkauften die BHs an Polinnen. Dafür bekamen sie Zlotys, polnisches Geld. Dafür konnten wir Lebensmittel kaufen. So schlugen wir uns die Wochen durch.

Im März 1946 war es dann soweit. Am Abend ging die polnische Miliz durch die Häuser, und befehligte, daß wir am nächsten Tag raus müßten. In der Nacht mußten alle Häuser offen bleiben. Es durfte keine Tür verschlossen werden. Die Miliz konnte also jederzeit hereinkommen und uns ängstigen. Wir packten uns jeder ein Bündel mit Wäsche und etwas Kleidung zusammen. Es war ja wenig genug was wir mitnehmen konnten. In Mutters Haus war ja noch Wäsche. Da teilten wir uns einige Stücke auf und für die Kinder hatte ich in den letzten Wochen schon was genäht. Bei der Flucht aus Riemertsheide hatten wir ja nichts mitnehmen dürfen. Die Polen hatten einen Wagen bereit gestellt, auf dem wir die Bündel legen durften. Dann ging es zu Fuß bis nach Glatz, ein Tagesmarsch. Ich weiß nicht, wie wir es mit den Kindern geschafft haben, aber geweint habe ich nicht mehr. Ich hatte einfach keine Tränen mehr. In Glatz wurden wir wieder in eine Schule getrieben, die Bewohner aus mehreren Dörfern. Dazu gehörten auch die Bewohner von Reinerz und Kudowez. Es war ein katastrophaler Zustand. Die sanitären Anlagen funktionierten nicht. Warmes Essen oder auch nur Tee gab es nicht. In einer Ecke des Klassenzimmers lag etwas Stroh. Darauf ließen wir uns nieder. Wir hockten sehr eng zusammen. Martel saß neben mir und bekam einen Herzanfall. Ich hatte nichts als ein nasses Taschentuch um ihr zu helfen. Ich habe es ihr aufgelegt und konnte bei ihr bleiben. Gott Lob, ging der Anfall dann vorüber. Ich mußte noch auf meine Eltern achten und meine Kinder schützend in den Arm nehmen, die verängstigt und verschreckt waren. Was für eine Ausweglosigkeit. Eine trostlose, traurige Nacht folgte. Wer konnte denn schon schlafen ? Wir saßen auf dem bißchen Stroh, das auf dem Boden lag. Dann zog ein neuer Morgen herauf, trostlos und ausweglos für uns. Es wurde bekannt gegeben, daß ein Priester da wäre, der eine Messe mit uns lesen würde. Auf dem Dachboden der Schule fanden sich viele vertriebene Menschen ein. Ein alter Tisch stand da, davor der Priester, der die Messe lesen wollte. Er gab uns allen die Generalabsulution, beichten sollten wir später. Es war für mich eine sonderbare Messe. Demütig kniete ich auf dem Fußboden. meine Kinder Vreni und Franz rechts und links neben mir im Arm. Ja, ich hielt mich an meinen Kindern fest. Dabei brauchten doch sie so dringend meinen Schutz.
Der Priester hielt seine Messe. Opferung, Wandlung, alles verlief wie gehabt. Dann kam das Vater unser, vor der Kommunion. Ich habe es nie so bewußt und inständig gebetet. Mein Geist war hellwach. Vater unser – ja, bist du mein Vater ? Kannst du unser großes Elend mit ansehen ? Unser tägliches Brot, gib uns heute – wir haben schon tagelang kein Brot mehr gegessen. Brot – nur Hunger – nicht für mich bitte ich, aber für meine Kinder, ach, Herr Himmelsvater, Hunger ist schlimm. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Meinen Peinigern soll ich vergeben, die mich in diese Not und Ausweglosigkeit gebracht haben ? Das zu beten, war schon sehr schwer für mich. Ich kniete auf dem Fußboden, meine Kinder im Arm und betete: “ Lieber Gott, erbarm dich meiner, ich bin nicht stark, hilf mir.” Vielleicht war ich Gott nie so nahe wie damals. Hinter mir war nichts mehr, vor mir nichts, die Zukunft dunkel, ich war wie in einem luftleeren Raum. Wie sollte es weitergehen? Gab es noch Hilfe?
In Glatz wurden wir in einen Personenzug geladen, der nach Westen ging. In Leipzig hielt der Zug etwas länger. Schwestern von der Bahnhofsmission gingen am Zug entlang und wir bekamen ein Stück Brot und eine Haferflockensuppe. War das eine Wohltat. Gab es doch noch Hilfe? Wir bekamen wieder neuen Mut. Der Zug fuhr weiter nach Westen. In Marienborn mußten wir raus. Hier wurden wir in einer Baracke registriert. Viel berührte mich das alles nicht mehr. Automatisch ließ ich alles über mich ergehen. Auf unserem Zettel stand: “Ziel – Lingen an der Ems.” Für mich war das kein Begriff, es war ja auch völlig egal.

Der Zug fuhr nach Lingen, da mußten wir dann raus. Wir waren etwa Hundert Personen aus der Gegend um Friedrichsberg. Mein Vater und Franz Bäner fühlten sich für die kleine Gruppe verantwortlich. An der Bahn standen zwei Lastwagen, die vorher Kohle gefahren hatten. Sie waren völlig verdreckt und voll Kohlenstaub. Auf diese Fahrzeuge wurden wir verladen und nach Langen gebracht. Nie werde ich vergessen, wie die Männer uns in die Lastwagen verfrachteten und wie die Irren mit uns losfuhren. Es war ein warmer Tag im März. Bei der Fahrt flog uns der Kohlenstaub ins Gesicht. Völlig verschmutzt kamen wir in Langen bei der Gastwirtschaft Wintering an. Die Männer, die uns gefahren hatten, schraubten die Klappen von den Lastwagen auf und wir mußten herunter springen. Ich faßte meine Kinder fester, damit ihnen nichts
passierte. Alles raus hieß es. Was war das wieder für ein Gefühl. So konnte man mit Sträflingen umgehen. Alle hundert Menschen standen auf der Straße vor der Gastwirtschaft Wintering. Im Saal der Gastwirtschaft war der Bürgermeister, Herr Bohse und eine Frau Wolke. Wir wurden wieder registriert und sollten auf verschiedene Höfe verteil werden. Von den Leuten, die uns registrierten, gab es kein freundliches Wort. Kalt und gleichgültig wurden wir behandelt. Abgeholt, wie es vorgesehen war, wurden wir von keinem Bauern. Zufällig fuhr ein kleiner Ackerwagen mit einem Pferd davor, vorbei. Auf diesem wurden wir verfrachtet und so wurden wir nach Espel zu Konermanns gefahren. Meine Eltern kamen zu Grelle in die Mühle. Kosmas kam bei Suilmanns in Espel unter und Martel bei Koldehoff. Hedel Tornow blieb bei Wiggermanns in Langen. Später kam sie dann nach Eilermann. Hedel Matschke mit ihrem Sohn Michel kam zur Bäckerei Hinken. Gern hat uns niemand aufgenommen. Doch wir waren fleißig und haben jahrelang nur fürs Essen gearbeitet. So wurden wir dann auch allmählich anerkannt. Langsam wurden wir hier heimisch.

März 1946
Ich kam mit meinen Kindern nach Espel in die Grelle – Mühle.

“Vor vielen Jahren kam ich her, mit der Sprache tat ich mich schwer.
In der Haustür stand die Bäuerin drall und rund,
ich war mager, erschöpft und hatte einen zerrissenen Strumpf.
Zwei kleine verängstigte Kinder hatte ich an der Hand.
Ich war in einem anderen, fremden Land.
Uttrecken sollte ich mich bald un no Buten goahn.
Was sollte ich? Du lieber Gott, ich konnte nichts verstohn.
De Pipe mott rut, ruft die Bäuerin mir zu,
de Maschine treckt nich mehr, se wärd nich mehr heet.
Ich dreh mich in der Küche um und um,
eine Maschine seh ich nicht, wie bin ich dumm.
Nun blitzt ein Gedanke in mir auf.
Der Ruß muß aus dem Ofenrohr raus.
erleichtert atme ich auf.

Bukpine heb ick, sagte die Bäuerin vom Schlafzimmer heraus.
Wasch du mal gleich die Melkdüppen aus.
Bukpine – Melkdüppen, ich denke nach,
gehört das denn zusammen? Ich bin ein Schaf.
Vom Felde komme ich heim, da sitzt die Frau am Tisch und weint.
Erschrocken frag ich, was ist denn los
Kusenkelln hebb ick, und Tränen flossen in ihren Schoß.
Kusenkelln – Kusenkelln, was kann das sein?
Mir fällt beim besten Willen dazu nichts ein.
Doch dann hör ich, das sollen Zahnschmerzen sein.
Eines Tages, ich hör die Bäuerin schrein,
mein Knipp is weg, wo kann es nur sein?
Ich steh erschrocken still, ein Knipp muß was wichtiges sein,
sonst würde die Frau doch nicht so schrein.

die Möpkes sind alle, hol mir neue her.
Ich bruk sie zum zwei Uhr Köppken, dat is een pläseer.
Möpkes – Köppken, was wird das nun wieder sein?
Hilf mir Himmel, dazu fällt mir auch nichts ein.

Verkassematuckelt hat er sich einen, so klagt die Frau den Mann an.
Das muß schrecklich sein, ich starre sie an.
Wenn ich das wüßte ganz genau,
wäre ich keine so dumme Frau.

Die Kerls wollen supen, hole ihnen ein Glas, sagt die Frau.
Zu Suppen braucht man doch einen Teller, wieso ein Glas?
Ich glaube sie macht mit mir einen Spaß.

Wie mache ich es richtig, wie kann ich alles verstehn?
es wird Jahre dauern, eh ich die Sprache versteh.
Kusenkelln – Möpkes – Knipp – Bukpine – hin und her,
wenn ich doch eine Dolmetscherin wär.
Ich denk an die Heimat, unser Platt in Schlesien.
Doch dort spricht es niemand mehr – es ist niemand da.
Wir leben in der Ferne, schon viele Jahr.”

Erklärung von plattdeutschen Wörtern
Uttrecken – ausziehen
Buten goahn – nach draußen gehen
Pipe – Ofenrohr – auch Pfeife
Maschine – Küchenherd
heet – heiß
Bukpine – Bauchschmerzen
Melkdüppen – Milchkannen
Kusenkelln – Zahnschmerzen
Knipp – Geldbörse
Möpkes – Plätzchen
Verkassematuckelt – betrunken sein
supen – Alkohol trinken